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Die Weisheit und Lebensart der „edlen Wilden“ - eine bewahrenswerte Kultur der Menschheit

Noch vor einem Jahrzehnt unvorstellbar, ermöglicht heute ein kleines technisches Wunderwerk, das Smartphon, die weltweite digitale Vernetzung, um in kürzester Zeit Nachrichten zu übermitteln. Doch wir wissen es längst: Die rasant fortschreitende Digitalisierung ist Segen und Fluch zugleich. Aber es existiert noch eine andere Welt – der zunehmend stärker gefährdete und weitgehend ungeschützte Lebensraum der Naturvölker. Bereits vor über 200 Jahren bezeichnete der französische Philosoph Jean Jacque Rousseau die indigenen Bewohner außereuropäischer Regionen respektvoll als die „edlen Wilden“. Die Rückbesinnung auf die hehren Traditionen der Naturvölker ist heute dringend geboten, ja zwingend angesichts der zusehens häufigeren Übergriffe gewaltbereiter rechtsradikaler Kräfte gegen Flüchtlinge, vor allem aus dem subsaharischen Afrika. Afrikaner schwarzer Hautfarbe werden von solchen Tätern, die sich auf haltlose reaktionäre Rassentheorien stützen, stigmatisiert, schlimmstens erniedrigt und verachtet und als minderwertige Menschen eingestuft. Somit erscheint das große Vermächtnis-Buch des amerikanischen Wissenschaftlers Jared Diamond (im folgenden D.) zur rechten Zeit. Der Geograph würdigt mit großer Empathie die schon ins Abseits geratene Welt der Naturvölker, ihre andersartigen Lebensweisen, Denkarten und Verhaltensnormen. Und er ist daher ein Aufklärer im besten Sinne des Wortes.

Eingangs stellt D. dem Leser die grundlegende Frage: Warum finden wir traditionelle Gesellschaften so faszinierend? Und er formuliert vorab sogleich die Antwort: Traditionelle Gesellschaften sind „noch frei in vielen ihrer kulturellen Bräuche weitaus vielgestaltiger als moderne Industriegesellschaften.“  Die Publikation umfasst 5 große Themenfelder, in 11 Kapitel untergliedert. Das geographische Zentrum der ethnologischen und anthropologischen Forschungen von D. sind Neuguinea und die benachbarten Pazifik-Inseln. Eine Region, so der Wissenschaftler, „die ich am besten kenne und dort die meiste Zeit verbracht habe. „ Neuguinea beherberge „die größte Zahl von Gesellschaften, die auch in moderner Zeit noch außerhalb der staatlichen Kontrolle liegen.“ Die indigenen Volksgruppen repräsentieren eine enorme Vielfalt traditioneller Lebensweisen. Ergänzt werden die Darlegungen über den Südsee-Raum durch jeweils inhaltlich analoge Beobachtungen mit kurzen Analysen anderer Forscher, namentlich Anthropologen, zur einzigartigen Lebensgestaltungen indigener Völker in anderen Weltregionen: vornehmlich Ethnien im subsaharischen Afrika betreffend (Nuer und Dinka im Südsudan; Pygmäen und Khoisan-Bewohner in Zentral- bzw. Südwestafrika; zudem Indianerstämme in Brasilien und Kolumbien sowie die Inuit in Grönland. „Vermächtnis“ ist eine vergleichende Studie in zweifacher Hinsicht: Vergleich zwischen den Naturvölkern selbst und zwischen der indigenen Welt und modernen Industriegesellschaften, vorrangig den USA.

D. unterscheidet bei den traditionellen Gesellschaften 3 Entwicklungsstufen: Horde – Stamm - (dörfliches) Häuptlingstum als höchste sozialen Stufe. Er beschreibt deren sozio-strukturellen Hauptmerkmale.

Das Themenfeld „Frieden und Krieg“, ursächlich verbunden mit der vielfältigen Konflikt-Problematik bildet den größten Teil des Buches (Kap. 2 – 4). Allein die Überschrift dieses Abschnittes ist wohl bedacht, denn eine friedliche Konfliktlösung hat im Bewusstsein der meisten Naturvölker einen hohen Stellenwert. Zugleich verweist D. nachdrücklich darauf, dass bei den Konfliktlösungsmechanismen kleiner Gesellschaften immer zwei Seiten zu beachten sind: einerseits die „bewundernswerte friedliche Verhandlung“, andererseits „eine bedauerliche Neigung zu Gewalt und Krieg“.

Den Ideen-Reichtum und die Faktenfülle der Publikation bedenkend, habe ich für den inhaltlichen Hauptteil ein brisantes Problem ausgewählt: den schwelenden ethnischen Konflikt zwischen den Nuer und den Dinka im Südsudan. D. verdeutlicht dies vorrangig am Beispiel der unterschiedlichen, ja gegensätzlichen strategischen Überlegungen und Handlungsmotivationen der Nuer im ingtriganten Kräftemessen mit den Dinka.

Die Nuer-Ethnie, etwa 200.000 Menschen, in Dörfern mit einer mehrstufigen Hierarchie lebend, politisch schwach organisiert, geführt jeweils von einem Häuptling mit geringen Machtbefugnissen.

Die Dinka, fast 3 Mio. Menschen, mithin die größte indigene Volksgruppe im Südsudan, sind eine patrilineare Gesellschaft, deren gesellschaftliche, insbesondere ökonomische Lebensgrundlage die großen Rinderherden sind.

Der historische Hintergrund des Konfliktherdes: im Ergebnis eines jahrzehntelangen grausamen Sezessionskrieges (Einsatz von Kindersoldaten; Massaker gegen die Zivilbevölkerung), ausgelöst durch gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Streitkräften der Islamischen Republik Sudan und Kämpfern der Sudanesischen Befreiungsbewegung (SPLA) erlangte der Südsudan zunächst die weitgehende Autonomie, fixiert im Friedensabkommen von Naivasha (2005). 2011 wurde dann die Südregion ein unabhängiger Staat. Der erste demokratische gewählte Präsident – Salve Kiir, ein Dinka, der Vizepräsident – Riek Machar, ein Nuer-Politiker, der sich selbst als mythologischer Heilsbringer seines Volkes erklärt. Seitdem tobt im Südsudan, entfacht von den charismatischen Führern beider Ethnien, ein heftiger Kampf um die Macht. 2013 eskalierten die Auseinandersetzungen zu einem blutigen Bürgerkrieg, in dem bisher über 50.000 Menschen getötet und etwa 2 Mio. auf der Flucht sind; teils in Flüchtlingslagern unter dem Schirm der Vereinten Nationen eine neue Heimat gefunden haben. Gewaltige Sprengkraft zur Konfliktverschärfung besitzen die machtpolitischen Ambitionen der beiden Ethnien im Zusammenhang mit den ergiebigen Ölvorkommen im Umfeld der Stadt Malakal nahe der nördlichen Grenzlinie. 2016 überfielen bewaffnete Nuer-Rebellen die Ölstadt, um den Zugriff auf die in der Umgebung vorhandenen reichen Ölquellen zu erlangen. Im Friedensabkommen von Naivasha wurde jedoch vereinbart, dass die Einnahmen aus der Ölförderung zu gleichen Teilen zwischen den Konfliktpartnern der Islamischen Republik Sudan und dem südsudanesischen Staat aufgeteilt werden.

Die konfliktverschärfende aggressive Strategie der Nuer bestätigt der britische Anthropologe Evans-Pritchard – eigene gründliche ethnologische Feldforschung vor Ort betreibend – mit den Worten: „Fremde, die nicht zu ihrem Volk gehören, werden entweder angegriffen (wenn sie Dinka sind) oder schlicht verachtet (wenn sie irgendeinem anderen Volk angehören)“. In Anbetracht derart entschiedener Feindschaft gegenüber anderen Volksgruppen, tradierte Gerechtigkeitsmechanismen betreffend, fällt es schwer andererseits an das friedfertige Verhalten innerhalb ihres Gemeinwesens zu glauben, obgleich der britische Wissenschaftler feststellt: „ein Nuer ist für einen anderen nie ein Fremder“ und D. ergänzt hierzu: „die Nuer betrachten Fremde nicht mehr als bedrohlich… sondern sogar als potentiell freundlich gesinnt – vorausgesetzt, es handelt sich ebenfalls um Nuer“. Diese Aussagen belegen in der Tat die äußerst widersprüchliche Art der Nuer-Volksgruppe im Umgang mit Fremden und der Fremdheit.

Außer dieser doch recht ausführlichen Darlegung zur angemaßten kriegerischen Konfliktlösung dieser südsudanesischen Ethnie schildert D. wiederum sehr detailliert, ja beinahe ausufernd (was das Verständnis für diesen Themenkomplex eher erschwert) die Kriegführung und den Verlauf kleinerer Stammeskriege, vornehmlich in der Südseeregion. Beginnend mit dem Krieg der Dani (gesondert behandelt im Kap. 3), eine der größten Bevölkerungsgruppen in Neuguinea, charakterisiert er – gebietsübergreifend – zugleich die krassen Unterschiede zwischen traditioneller Kriegführung und dem Kriegsgeschehen in modernen Industriegesellschaften – psychologische und waffentechnisch, dabei unterstreichend: Jäger und Sammler kämpfen noch mit Pfeil und Bogen, auch Blasrohren.

 

Im 2. Teil werden sozusagen als eine anspruchsvolle „Empfehlung“ der indigenen Völker wichtige Lernfaktoren für moderne Zivilgesellschaften aufgezeigt, deren mögliche Realisierung in der westlichen Welt zumindest des Nachdenkens wert sein sollte. Dazu gehört unstrittig der von D. übermittelte Erfahrungsschutz zu Kindererziehung.
Die Grundaussage: Sicherheit, Selbstvertrauen, Neugier und selbständiges Handeln sind in Kleingesellschaften schon bei den Kindern angestrebte wesentliche Charakterzüge. Ihre Erziehung ist frühzeitig darauf ausgerichtet, soziale Kompetenz und Verantwortungsbewusstsein auszubilden. Allein das selbstgefertigte Spielzeug – im Unterschied zu Massenprodukten moderner Zivilgesellschaften – zeigt ihre bewundernswerte Kreativität (ein anschauliches Beispiel die von kenianischen Kindern aus Stöckchen und Schnüren gebastelten kleinen Autos mit Achsen und Rädern –  s. Foto im Buch). Diese Entwicklung wird entscheidend bestimmt durch die fehlende äußere Einflussnahme – TV, Videospiele, Bücher. Positiv vorausschauend die weittragende Erkenntnis von D.: „Die Kindererziehungsmethoden der Jäger und Sammler, die uns so fremdartig erscheinen, haben keine katastrophale Folgen und bringen keine Gesellschaft aus offenkundig sozial gestörten Menschen hervor.“

Der Umgang mit alten Menschen in indigen Gesellschaften beruht auf den moralischen Grundsätzen von Liebe, Respekt und Verpflichtung. D. betont vor allem die Seite des Nutzbringens alter Menschen für die Gemeinschaft und nennt hierzu markante Beispiele: zuerst die lebensnotwendige Hilfe bei der Nahrungsbeschaffung, verbunden mit den immensen Erfahrungen u.a. alter Buschmänner beim Aufstellen von Tierfallen und der Herstellung von Jagdwaffen (Blasrohren). Nicht minder hilfreich ist ihre Arbeit als Babysitter im Familienalltag. Das besondere Augenmerk gilt jedoch dem Phänomen der Erinnerung: „Die Gehirne älterer Menschen sind in einer solchen Gesellschaft die Enzyklopädien und Bibliotheken. Sie kennen Mythen und Lieder eines Stammes, sie wissen wer mit wem verwandt ist. Sie kennen die Namen, Lebensweisen und Anwendungsbereiche für Hunderte von einheimischen Pflanzen und Tierarten.“ Kurzum der amerikanische Wissenschaftler bringt es auf den Punkt. Die Fürsorge für den älteren Menschen wird „zu einer Frage von Leben und Tod“.

Im ersten Moment schockierend ist jedoch die bei Naturvölkern praktizierte Entsorgung alter Menschen – Tötung oder Aussetzung. Die hierbei gebräuchlichen Methoden sind die Aufforderung zum Selbstmord, aktive Sterbehilfe, Mord auf Verlangen und das Zurücklassen bei einem Standortwechsel. In des wird bei tieferer Betrachtung derart rigider Verhaltensnormen begreifbar – der akute Nahrungsmittelmangel. Hierzu die um Verständnis ringende nahezu ohnmächtige Erklärung von D.:“ Was kann eine Nomadengesellschaft, in der die Nahrung nicht für die ganze Familie reicht, sonst mit ihren älteren Menschen machen?“

Die Sprachen-Problematik ist offenbar das besondere Anliegen des Autors. Stolz verkündet er, dass jeder Einwohner Neuguineas drei bis fünf indigene Sprachen spricht, Sprachkenntnisse und fertigkeiten, die bereits in frühester Kindheit ohne Bücher vielmehr „auf sozialem Wege“ erworben wurden. Um sogleich vergleichend kritisch anzufügen: „In den Vereinigten Staaten hingegen sind die meisten im Land geborenen Bürger einsprachig.“ D. unterstreicht, dass Sprachen eine „unverzichtbare Rolle“ für das Überleben der indigenen Kulturen spielen. Jede Sprache „ist das Transportmittel für eine einzigartige Denk- und Redeweise, eine einzigartige Literatur und eine einzigartige Weltsicht. Bemerkenswert sind die Aussagen zur Sprachenverbreitung. Danach behauptet das Mandarin, gesprochen von über 700 Mio. Chinesen, weltweit den ersten Platz. Es folgen Spanisch, Englisch und Arabisch mit mehr als jeweils 100 Mio. Sprechern.

Sozio-ökonomische und historische Faktoren bestimmen die Sprachenvielfalt. So sind die Aborigins traditionell zweisprachig, begründet mit den winzigen Sprachgruppen und häufiger Exogamie. Beunruhigend sind die Anmerkungen zum fortschreitenden Sprachensterben. D. kennzeichnet als direkte Folge der kolonialen Expansion europäischer Mächte die einsetzende Verdrängung von Indianersprachen in Lateinamerika. Von den ursprünglich 7.000 Sprachen in der Welt existieren heute nur noch etwa 1.000. So werden z. B. in Alaska nur zwei indigene Sprachen überleben, das zentrale Yupik mit ca. 10.000 Sprecher) und das sibirische Yupik mit ca. 1.000 Sprechern. Die bedenkliche Sprachensituation weltweit bewusst machend, formuliert D. abschließend: „Der Verlust von Sprachen schränkt also nicht nur die Freiheit von Minderheiten ein, er beschränkt auch die Möglichkeiten der Mehrheit.

Die Naturvölker sind in tiefster Religiösität befangen. Der Glaube an übernatürliche Kräfte, der Rückgriff auf magische Rituale und Zeremonien sind tief verwurzelte Wesenheiten von Naturreligionen (Animismus). Charakteristisch ist das Leugnen des Todes, einher gehend mit den Glauben an die Wiedergeburt und ein besseres Jenseits. Im Unterschied beispielsweise zum Christentum existieren in Religionen von Kleingesellschaften keine standardisierten Merkmale (Kunst, Musik, Kleidung und es gibt keine hauptamtlichen Geistlichen und es fehlen heilige Bücher wie die Bibel. Die zwingende Erklärung dafür so D. „Stammesgesellschaften sind so klein und wenig produktiv, dass sie keine Nahrungsmittelüberschüsse erzeugen können, mit denen sie hauptamtliche Priester, Häuptlinge … Schamanen versorgen könnten“. Schließlich offenbart er, menschliche Entwicklung voraus denkend, welche übergreifende Kraft religiöse Glaubensbekenntnisse indigener Völker angesichts des zusehens katastrophalen Weltzustandes bestimmen könnte. D. schreibt: „Wenn dagegen große Teile der Welt in Armut gefangen bleiben oder – noch schlimmer – wenn Weltwirtschaft, Lebensstandard und Frieden zerfallen, könnten alle Funktionen der Religion vielleicht sogar die Erklärung von Übernatürlichen eine Renaissance erleben.“

Wie verhalten sich indigene Bewohner bei Gefahren und beim Abwägen von Risiken? D. bezeichnet die hierbei gebotene Vorsicht als „konstruktive Paranoia“. Er nennt 4 Gefahrengruppen: ökologische Gefahren, zwischenmenschliche Gewalt, Infektionskrankheiten und Hunger. Bedenklich sei die große Vertrauensseligkeit in traditionellen Gesellschaften, weil die Menschen nicht wie jene in der modernen Zivilisation über die Möglichkeit der passiven Unterhaltung verfügen: TV, Internet, Radio, Video und Bücher. Er kennzeichnet vielfältige Gefahrenmomente, nicht zuletzt lebensbedrohliche Bisse von Schlangen und Skorpionen. Dazu gehört auch, bei Afrikanern Angst und Schrecken verbreitend das tödliche Gift der schwarzen Mamba, der gefährlichsten Giftschlange des tropischen Afrikas.

Zum Problemfeod Gesundheit, obgleich mehrseitig ausführlich behandelt, formuliert D. beinahe lakonisch den für ihn wichtigsten Satz: „Die nicht übertragbaren Krankheilten, an denen heute die meisten Bewohner der ersten Welt sterben, Diabetes, Bluthochdruck, Schlaganfall, Herzinfarkt, Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Allgemeinen und Krebs – waren bei den traditionellen Bewohnern der ländlichen Gebiete selten oder unbekannt.“ Für diese bedeutsame Hypothese fehlen allerdings im Text beweiskräftige Argumente.

Die Gesundheit logischerweise mit der Ernährungsfrage verknüpfend lobpreist D. geradezu das positive Verhalten indigener Bewohner, die Schätze der einheimischen Umwelt aufzuheben, um eine gesundheitsfördernde Nahrungsaufnehme zu garantieren. Dies gelte für die Sammlung von Früchten, heilbringenden Pflanzen ebenso wie den Feldanbau gesunder vitaminreicher Agrarprodukte (Hirse, Maniok, Yams u.a.). Mehrfach hebt D. überdies hervor, dass der geringe Salzverbrauch traditioneller Gesellschaften die Gesundheit fördert.

Im Epilog würdigt Jared Diamond - zusammenfassend – nochmals die unstrittigen Vorzüge der Lebensweise indigener Völker. Das sind lebenslange zwischenmenschliche Bindungen, die oftmals konfliktentschärfend wirken. Die Vereinsamung ist im Unterschied zur westlichen Zivilisation kein Problem, denn in Horden und Stämmen ist niemand ein Fremder. Vielmehr sind soziale Geborgenheit, Fürsorge und Hilfsbereitschaft vorherrschende Seiten eines glücklichen Lebensgefühls. D. selbst bestätigt eindrucksvoll eine solche humane Lebensart, wenn er schreibt: In  Neuguinea „konnte ich ungehindert aufwachsen, kreativ spielen und die Wildnis erkunden. Ich hatte die erfüllteste Kindheit, die man sich vorstellen kann.“ Äußerst kritisch beurteilt der Wissenschaftler den derzeitigen menschlichen Faktor in seiner Heimat USA. Bei vielen Bürgern gebe es nur geringes Wissen und Verständnis für die übrige Welt. „Anscheinend haben sie sich hinter den Mauern einer sorgfältig aufgebauten selektiven Unwissenheit komfortabel eingerichtet“.

Sodann erinnert D. mit einem gewissen Stolz an jene vordem in den einzelnen Kapiteln aufgezeigten Lernfaktoren, die traditionelle Gesellschaften gleichsam als Empfehlungen für die moderne Zivilisation anzunehmen – einzigartige Ratschläge allemal für eine gesunde, weitgehend harmonische Lebensgestaltung.

Eher ungewöhnlich sind für den Leser gewiss jene Erfahrungen der friedlichen Konfliktbewältigung in Kleingesellschaften Neuguineas und Lateinamerikas. Dies gilt vor allem für die von indigenen Bewohnern ausgeübte sogenannte Schadenersatz-Zeremonie „im Schatten des Krieges“: eine verfügte Ausgleichszahlung als Nahrungshilfe (Lebensmittel, auch Kühe und Schweine) für geschädigte Konfliktparteien, bisweilen verbunden mit einem gemeinsamen Essen. Eine andere Form der Konfliktbewältigung ist die „abgestufte Verbannung“, wo die Konfliktpartner räumlich weiter voneinander entfernt werden, einhergehend mit dem zeitweiligen Entzug von Lebensmitteln, z. B. – praktiziert von den Piraha-Indianern in Brasilien.

Am Schluss seines Epilogs bekräftigt er die notwendig realistische Weltsicht, die er mit zukunftsträchtigen Worten erfasst; „Man sollte das traditionelle Leben nicht romantisch betrachten..“, denn letztlich gibt es bei aller Empathie für die wundersame Welt der Naturvölker seitens der modernen Industriegesellschaften keine Veranlassung zu einer „idyllischen Lebensweise als Jäger und Sammler zurückzukehren“. Vielmehr vollziehe sich der Wandel ausschließlich in die andere Richtung. „Jäger, Sammler und Kleinbauern, die … Zeugen des westlich geprägten Lebens werden, wollen in die moderne Welt eintreten. Dafür haben sie überzeugende Gründe, darunter moderne Annehmlichkeiten, wie materielle Güter, die das Leben leichter und angenehmer machen…“

Der Publikation sind eine Liste weiter führender Literatur und ein alphabetisch geordnetes Sachwortverzeichnis beigefügt.

Alles in allem, eine gehaltvolle, ungemein faktenreiche Publikation, vielfach durch persönliche Erfahrungen bereichert. Der amerikanische Wissenschaftler manifestiert - ungeachtet kleinerer Schwächen (z.B. zu stark idealisierender Ausführungen und teils störender Wiederholungen) – überzeugend die einzigartige Lebensweise der bisweilen schon vergessenen „edlen Wilden“. So gesehen dokumentiert das Vermächtnis-Buch auch eine besonders wertvolle Erinnerungskultur der Menschheit. Dank der durchweg populärwissenschaftlichen Darstellung sollte es viele interessierte und neugierige Leser finden.

Wolfgang Semmler

 


Angaben zum vorgestellten Buch

Jared Diamond

Vermächtnis -
Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können

S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2012

Zum Autor:
Jared Diamond, Professor für Geographie an der University of California; Los Angeles

Weitere Publikationen:
Arm und Reich
Die Schicksale menschlicher Gesellschaften
Der dritte Schimpanse
Evolution und Zukunft des Menschen

Alle herausgegeben vom Fischer Taschenbuch Verlag