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„Jeder verdient eine zweite Chance“

Gedanken nach der Bundestagswahl

Wochen nach der Bundestagswahl kann ich nicht mehr an mich halten. Ich habe in dieser Zeit einfach zuviel lesen müssen, was mich wirklich erbost hat. Und ich muss dem einen oder anderen vor allem von der CDU und den westlichen Bundesländern mal deutlich sagen: Kommt endlich klar mit Euch!

Die vergangenen Monate waren sehr intensiv. Nachdem ich als Direktkandidat der LINKEN für den Bundestag in einen Wahlkampf hineingeplatzt bin, den ich im Juni noch gar nicht geplant hatte, erlebte ich eine unfassbare Solidarität unter den Genossinnen und Genossen erlebt. Aber ich habe auch sehr, sehr viele unterschiedliche Lebensgeschichten erfahren.

Ich erinnere mich an die Frau, die mir erzählte, sie habe früher in der LPG gearbeitet und ein geringes Einkommen gehabt. Nach der Vereinigung sei sie dann als Kassiererin tätig gewesen. Auch mit einem niedrigen Einkommen. Insgesamt 45 Arbeitsjahre. Ihre Rente beträgt heute 745 €. Sie fragte mich, wie sie damit leben solle. Es bleibe nach der Bezahlung von Miete, Strom und Lebensmitteln kaum noch was übrig. Teilhabe an der Gesellschaft fällt für sie gänzlich aus.

Ich erinnere mich an den Oberst der Bundeswehr in Rente, der fast 40 Jahre lang Soldat der Bundesrepublik war. Stationiert in Hessen. Der mir erzählte, wie schrecklich er die Kriegseinsätze der Bundeswehr findet und dass er sich schämt dafür, dass man der Meinung ist, man könne mit militärischen Mitteln Länder aufbauen. Er ist vor wenigen Jahren in die Schorfheide gezogen und kann sich nichts anderes mehr vorstellen als links zu wählen.

Ich erinnere mich an die alleinerziehende Mutter, die mir erklärte, dass sie nur Teilzeit arbeiten könne, sie aber Kita-Gebühren bezahlen müsse und mit den Öffnungszeiten der Kita nicht klarkomme, weil sie nicht kompatibel mit ihren Arbeitszeiten sind.

Ich erinnere mich auch an den ehemaligen hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, der mir erklärte, dass er an das System geglaubt habe und jetzt nicht akzeptiere, dass eine vemeintlich moralisch überlegene Gesellschaft über seinen Lebenslauf richte ohne zu berücksichtigen, dass auch er etwas dazu gelernt hat. Heute lese ich so oft: die Ossis sind undankbar, die Ossis wählen rechts und noch mehr krudes Zeug.

Diese Aussagen kommen natürlich immer von ganz klugen Leuten aus dem Westen. Und hey, ich bin auch einer, der im Westen geboren ist. Ich erinnere mich gut an die alte Bundesrepublik, dieses dröge Gebilde einer Gesellschaft, die so trocken konservativ war, dass es staubte. Die auch mich geblendet hat mit angeblichem Wohlstand für alle. Und deswegen mein Appell: Kommt endlich mal klar mit Euch.

Erstens ist die AfD auch im Westen gewählt worden. Mit 3,9 Millionen Stimmen, im Osten mit 1,9 Millionen Stimmen. 80 Prozent der Menschen im Osten haben diese rechte Partei nicht gewählt. Auch ohne den Osten wäre die AfD mit fast 9 Prozent im Bundestag vertreten. Hört also endlich auf, dem Osten die Schuld zu geben.

Zweitens: Könnt Ihr endlich mal akzeptieren, was hier im Osten der Republik nach 1990 passiert ist? Niemand, einfach niemand, hat keine Brüche in seinem Leben erleben müssen. Mit der Einheit kam die Arbeitslosigkeit, die Deindustrialisierung des Ostens, es kam der Abbau der Schulen im ländlichen Raum, die Schließung der Einkaufsmöglichkeiten, der Verlust der Ärzte, die Einstellung der Bus- und Bahnlinien.
Kann man einfach mal akzeptieren, was das für Menschen bedeutet, wenn alles zusammenbricht, woran man geglaubt hat oder was man im Leben gemacht hat? Zu allem, was man erlebt hat, heißt es plötzlich: Ihr habt in einem Unrechtsstaat gelebt, Euer Lebensweg ist nur noch für eine Moritat gut genug (frei nach dem großartigen Liedermacher Frank Viehweg).

Jetzt fängt man an, Zerstörtes wieder neu aufzubauen. Plötzlich bekommen wir - analog zu den Polikliniken, die ja wohl nicht gut genug waren - medizinische Versorgungszentren. Plötzlich merkt man, dass vielleicht das Bildungssystem doch nicht so schlecht war, wo Kinder lange gemeinsam gelernt haben. Und man versucht sich um den ländlichen
Raum zu kümmern – übrigens lange nicht nur ein Problem im Osten. Dafür fordern einige jetzt ein Heimatministerium (was immer mir das eigentlich sagen soll). Hätte man den ländlichen Raum nach der Wende im Osten nicht systematisch zerstört, müsste man jetzt nicht anfangen, ihn wieder neu aufzubauen, sondern hätte lernen können.

Kapieren die, die so einen Blödsinn über die undankbaren Ossis und die „Schuld des Ostens“ erzählen, was in Menschen vorgeht, deren Lebenswege nicht respektiert werden, die mehrfach ihren Job verloren haben, in deren Orten alles, wirklich alles, weg ist, was es an sozialen Einrichtungen gab? Deren Kinder hunderte von Kilometern weg ihren Job gefunden haben, weil man ganze Landstriche deindustrialisiert hat? Die jetzt alleine da sitzen – einsam.

Das sind in vielen Bereichen nicht nur Probleme des Ostens, sondern auch das Westens. Die Trennlinie in diesem Land verläuft nicht mehr zwischen Ost und West – sie verläuft zwischen Arm und Reich.

Die Fehler der Vergangenheit sind gemacht, aber man kann sie für die Zukunft vermeiden! Respektieren wir doch einfach unterschiedliche Lebensläufe, werfen wir keinem seine Entscheidungen vor und geben wir jedem eine zweite Chance. Denn diese verdient jeder.

Manche werden jetzt über mich schimpfen, manche werden mir wieder vorwerfen, was ich früher mal gedacht habe – auch politisch. Ich kann denen nur antworten: Wenn wir unser Leben lang in festgefahrenen Denkstrukturen bleiben und wir uns selber keine Chance auf Veränderung geben, dann werden wir sie anderen auch nicht einräumen.
Andreas Büttner, Direktkandidat der LINKEN für den Bundestag im Wahlkreis 57 (OW-Beitrag)