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Sebastian Walter: "Mindestlohnbetrug ist Diebstahl!"

Von Klaus Kleinmann

In einem Gespräch der OFFENEN WORTE mit Sebastian Walter, dem Fraktions­vorsitzenden der LINKEN im brandenburgischen Landtag, ging es um Mindestlohn und Mindestlohnbetrug - ein massives, politisches Ärgernis.

Die Debatte um das Mindestlohngesetz wurde 2002 durch die damalige PDS angestoßen, aber erst im Jahre 2015 wurde das Gesetz verabschiedet. Industrienahe Politiker traten auf die Bremse, weil sie gemeinsam mit der Arbeitgeberseite einen Niedriglohnsektor in Deutschland erhalten wollten.  

Es war sehr gut, dass der Mindestlohn dann doch eingeführt wurde. Sebastian Walter rechnet vor, dass 10 Mio. Arbeitnehmer in Deutschland von Anfang an davon profitierten. In Brandenburg sei das bis auf den heutigen Tag jeder dritte Beschäftigte. In mehreren Schritten wurde der Mindestlohn auf derzeit Euro 9,35 aufgestockt. Um eine Altersversorgung über dem Niveau von Hartz IV zu ermöglichen, müsste er allerdings bei Euro 12,50 liegen. Die LINKE setzt sich dafür ein.

Die Vorteile des gesetzlichen Mindestlohnes liegen auf der Hand:  

  • Wer Vollzeit arbeitet, soll auch davon leben können. Ein gesetzlicher Mindestlohn ist gedacht als Schutz der Arbeitnehmer vor Verarmung trotz Vollbeschäftigung.
  • Das Existenzminimum soll gesichert werden, ohne dass eine Aufstockung durch Hartz IV nötig ist.
  • So entlastet der Mindestlohn die öffentlichen Kassen.
  • Wer mehr Geld bekommt, kann sich auch mehr leisten. Der Mindestlohn kurbelt also die Nachfrage an, erhält dadurch Arbeitsplätze und schafft tendenziell sogar neue.

Natürlich ist sich Sebastian Walter darüber im Klaren, dass der Mindestlohn manche Produkte verteuert hat. Er wendet aber ein, dass gute Arbeit auch gutes Geld wert sein muss. Keiner dürfe ausgebeutet werden. Dumpingpreise könne niemand wollen, weil die Arbeitnehmer dafür den Kopf hinhalten müssen. Wenn Firmeninhaber darüber klagen, dass der Mindestlohn ihre Produkte ins Unermessliche verteuert, müsse man eventuell an ihren unternehmerischen Fähigkeiten zweifeln.  

Der Mindestlohn ist zwingend vorgeschrieben. Er gilt auch für Ausländer, die in Deutschland arbeiten. Arbeitnehmer können qua Gesetz nicht auf den Mindestlohn verzichten oder freiwillig einer geringeren Vergütung zustimmen.

Sie werden aber oft dazu gezwungen - womit wir beim Mindestlohnbetrug wären. Das Grundschema ist dabei ganz simpel: Der Arbeitnehmer wird für eine bestimmte Stundenzahl eingestellt und hat in dieser Zeit ein festgelegtes Arbeitspensum zu bewältigen. Schafft er das nicht - und es ist schon so bemessen, dass er es nicht schaffen kann - werden die dafür nötigen Überstunden nicht bezahlt. Der Verfasser dieses Textes hat damit eigene Erfahrungen gemacht: Als Fahrer einer Cateringfirma waren laut Vertrag pro Schicht eine bestimmte Anzahl von Essensportionen auszuliefern. In der dafür vertraglich festgesetzten Zeit das Pensum aber unmöglich zu bewältigen. Überstunden? Umsonst! "Du arbeitest doch gerne bei uns", hieß es.

Im Friseurhandwerk funktioniert das ähnlich: Der Arbeitsvertrag setzt nicht nur die wöchentliche Arbeitszeit, sondern auch die Zahl der zu bedienenden Kunden fest. Schafft der oder die Angestellte das vorgegebene Ziel nicht - z. B. weil keine Kunden im Laden sind und man auf sie warten muss - wird die Zeit eben ohne Bezahlung angehängt.- In der Gastronomie arbeitet manche Aushilfskraft für eine prozentuale Beteiligung am Umsatz oft weit unter dem Mindestlohn für die geleistete Zeit.

Anderswo wird die Art der vergüteten Arbeiten genau definiert. Bei Fahrern von Paketdiensten kann es sein, dass das Ein- und Ausladen des Autos nicht darunter fällt und damit unbezahlt bleibt. Steht der Fahrer im Stau, bekommt er auch für diese Zeit oft kein Geld. Auch Abzüge für Dienstkleidung und Arbeitsmaterial, Kost und Logis können - gern in überhöhter Form - den ausbezahlten Betrag senken.

Jugendliche fallen nicht unter das Mindestlohngesetz. Erwachsene Mitarbeiter werden manchmal genötigt, ihre Arbeitsverträge auf verwandte Minderjährige umzuschreiben, während sie selbst die Arbeit weiter verrichten. Andere Unternehmen stellen Langzeit­arbeitslose auf lediglich 6 Monate befristet ein. In dieser Zeit fällt der Mindestlohn noch nicht an. Sind die 6 Monate um, werden sie durch andere Langzeitarbeitslose ersetzt.

Beliebt ist auch der Trick mit der Scheinselbständigkeit: Unternehmen kündigen ihren Angestellten und lassen sie als "Selbstständige" bei sich weiterarbeiten. Für solche gelten die Bestimmungen des Mindestlohngesetzes nicht - und jeder ist selbst für Versicherungen, Steuern und Sozialbeiträge verantwortlich. Gerne werden auch Praktikanten für ein Taschengeld eingestellt, weil sie ebenfalls nicht unter das Mindestlohngesetz fallen. Das ist Betrug am Arbeitnehmer und an den öffentlichen Kassen!

Eine gewisse Mitverantwortung sieht die Gewerkschaft Verdi allerdings auch bei den Arbeitnehmern, die sich nicht gegen solche Tricks zur Wehr setzen. "Zum Ausnutzen gehören immer zwei", heißt es dort. Doch im Zweifel trifft es die Schwächsten, die sich aus Angst um den Job nur schlecht wehren können. Hiermit sei erneut dafür geworben, Rückgrat zu zeigen und sich Beistand zu holen. Gewerkschaften und Abgeordnete der LINKEN unterstützen hier mit Rat und Tat. Sprechen Sie uns vertrauensvoll an und ermutigen Sie andere, das ebenfalls zu tun! Sie erreichen uns unter...

Auch die Hauptzollämter stehen als Ansprechpartner bei Beschwerden zur Verfügung. Die Einhaltung des Mindestlohngesetzes wird nämlich vom Zoll überwacht, aber der ist wegen seiner dünnen Personaldecke damit restlos überfordert. Daher wird viel zu lasch kontrolliert. Zwar wurden neuerdings mehr Mitarbeiter eingestellt, aber längst nicht im erforderlichen Ausmaß. 2000 zusätzliche Stellen wären nötig, so schätzt Sebastian Walter - dem Vernehmen nach wurden nur 650 geschaffen. Dabei geht das Argument, dass für mehr solcher Kräfte kein Geld zur Verfügung steht, ins Leere: Die Bußgelder, die sie verhängen, dürften die Höhe ihres Lohnes deutlich übersteigen.

Über 6.700 Zöllnerinnen und Zöllner gehen in diesem Bereich auf Streife. Das reicht aber bei weitem nicht, auch wenn laut Medienberichten im Jahr 2019 mehr Verstöße gegen das Mindestlohngesetz aufgedeckt wurden als früher. Am Bau entstand laut Berliner Morgenpost 2018 durch Verstöße ein gemeldeter Schaden von mehr als 16 Millionen Euro, die Geldbußen lagen bei 14,5 Millionen. Bei der Gebäudereinigung erreichte der Schaden 4,5 Millionen Euro, gegen betroffene Firmen wurden Strafen von knapp einer Million verhängt.  

Die Dunkelziffer dürfte jedoch gewaltig sein: Ebenfalls laut Berliner Morgenpost wurden 2017 nur 2,4 Prozent aller Betriebe kontrolliert. Wenn aber schon bei den vergleichsweise spärlichen Kontrollen derartige Schadenssummen an den Tag kommen, wie groß mag da der Gesamtschaden in Deutschland sein? Es handelt sich gewiss um astronomische Summen, die an Steuern, aber auch an Beiträgen für die Sozialversicherungen verloren gehen - vom Verdienstausfall für die Beschäftigten ganz zu schweigen. Die Gewerkschaft Verdi schreibt: "Beschäftigte in Deutschland wurden durch Mindestlohnbetrug 2016 um 6,5 Milliarden Euro geprellt. Für die über 2 Mio. Betroffenen bedeutet dies einen monatlichen Lohnverlust von durchschnittlich 251 Euro. Die Umgehung des Mindestlohnes kostet aber nicht nur die Beschäftigten viel Geld, sondern auch die Sozialversicherungen. Ihnen fehlten dadurch allein 2016 knapp 3 Milliarden Euro."

Es gilt also sogar im ganz großen Stil, wenn Sebastian Walter sagt, dass Mindestlohnbetrug Diebstahl ist. Man kann hier sicher zu Recht eine klammheimliche Absicht der herrschenden Parteien vermuten: Die Umgehung des Mindestlohnes wird durch laxe Kontrollen unter fadenscheinigen Argumenten stillschweigend toleriert, um einen Niedriglohnsektor zu erhalten, dem höhere Profite zu entlocken sind. Die LINKE wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um gegen unsoziale Profitgier vorzugehen und für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Betroffene, meldet euch!    

Quellen u. a.:

http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a640-ml-broschuere-pdf.pdf?__blob=publicationFile&v=8

https://www.zoll.de/DE/Fachthemen/Arbeit/Mindestarbeitsbedingungen/Mindestlohn-Mindestlohngesetz/mindestlohn-mindestlohngesetz_node.html

https://www.morgenpost.de/politik/article216712271/Mindestlohn-Wo-betrogen-wird-und-wer-es-kontrolliert.html

https://wipo.verdi.de/publikationen/++co++af07212a-3d59-11e8-8186-525400423e78 - dort auch hübsche Grafik, besser als jeder Info-Kasten