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"Der Brexit führt vor Augen, wie absurd die Abschaffung der EU wäre"

Helmut Scholz, der bei den Wahlen zum Europäischen Parlament am 26. Mai erneut als Kandidat der LINKEN antritt, ist Experte für internationalen Handel und auswärtige Angelegenheiten. Frithjof Newiak befragte ihn, ob die EU angesichts eines zunehmenden Nationalismus – Beispiel Brexit – gescheitert sei.

In vielen Ländern ist eine Hinwendung zu nationalstaatlicher Politik und Abkehr von der EU zu beobachten. Am deutlichsten ist das am Brexit festzumachen. Ist die EU damit gescheitert?
Es stimmt leider, dass in vielen Ländern nationalistische Kräfte stärker geworden sind. Dennoch: Laut dem Statistikamt Eurobarometer halten acht von zehn Deutschen die EU-Mitgliedschaft für eine gute Sache. Diese Ansicht wird von 63 Prozent der EU-Bevölkerung geteilt. Das ist der beste je gemessene Wert.
Vielleicht führt gerade der Brexit vor Augen, wie absurd die Forderung nach Verlassen oder Abschaffen der Europäischen Union ist. Die britische Debatte zum Brexit wurde nicht rati-onal geführt, sondern geprägt durch reiche, extrem konservative Kreise, deren Verklärung des Empire und ihrem Ziel, im eigenen Wahlkreis wiedergewählt zu werden.
Ein weiterer markanter Anteil der Stimmen für den Brexit basierte auf sozialem Protest. Zwar ist nicht die EU schuld an überteuerten Mieten oder an der schlechten Situation von Alleinerziehenden. Aber der Protest verdeutlicht, was sich die Menschen eigentlich von ihrer Europäischen Union erhoffen würden. Wir müssen ihre Forderungen aufgreifen und die Prioritäten der gemeinschaftlichen Politik verändern. Der Mehrwert von Europa muss erlebbarer werden. Das erfordert vor allem eine sozialpolitische Initiative. Wir brauchen eine deutliche Steigerung der Einkommen in den ärmeren EU-Mitgliedstaaten. Im Lissabon-Vertrag haben Briten, Christdemokraten und Liberale leider der Kommission untersagt, einen Vorschlag für einen europäischen Mindestlohn zu unterbreiten. Aber wo ein Wille ist, können die Regierungen der Mitgliedstaaten Vereinbarungen treffen. Bei Rüstungsunion und Bankenrettung konnten sie das ja auch.

Welche Ursachen sehen Sie für die Hinwendung zu nationalstaatlicher Politik?
Es gibt eine gutbürgerliche Mittelschicht, die keine Veränderungen mag: keine Flüchtlingsunterkunft oder ein Frauenhaus in ihrer Nachbarschaft, weil das den Wert ihres Hauses mindern könnte. Keine Menschen, die anders aussehen, anders leben oder anders lieben. Rechte Parteien bieten diesem konservativen Bürgertum ein Ventil. Es wurden sogar Stimmen salonfähig, die in der deutschen Fußballnationalmannschaft nur noch weiße Jungs sehen wollten.
Trump schließlich löste international einen Überbietungswettbewerb schlimmster verbaler Attacken aus. Die politische Sprache der aufstrebenden Rechten will einschüchtern. Deshalb gilt für uns nun erst recht, dem entgegenzutreten und unsere demokratischen Grundwerte zu schützen. Ich sage sogar: Die Teilnahme an dieser Europawahl ist auch ein Stück antifaschistischer Kampf.

Nun gibt es Meinungen, dass die EU nicht reformierbar sei. Sie kandidieren trotzdem wieder für das EP. Welche Chancen sehen Sie, die EU sozialer, transparenter und demokratischer zu gestalten?
Politik ist veränderbar - in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten genauso wie in der Europäischen Union als Ganzes. Das geschieht auch, aber noch längst nicht genug. Zwar wurden in Göteborg auf einem EU-Sondergipfel die Säulen einer sozialen Union beschrieben, als Reaktion auf die Brexit-Abstimmung. Leider ist das Ergebnis ein ausgesprochen zahnloser Kompromiss. Die Regierungen der Mitgliedsstaaten, insbesondere aber die Mitte-Rechts-Parteien müssen ihre Blockade von echten sozialen Innovationen und einem europäischen Lastenausgleich endlich aufgeben.
Umweltschutz und Klimawandel verlangen ebenfalls ein Umdenken – in allen Bereichen des täglichen Lebens, unüberhörbar gefordert bei den Fridays for Future-Demonstrationen. Doch offensichtlich wird dieser Aufschrei der Jugend insbesondere von CDU/CSU oder FDP nicht verstanden. Aber die jungen Menschen haben recht: Es gibt keinen Planeten B. Deshalb brauchen wir im nächsten Europäischen Parlament starke Abgeordnete, die um die Bedeutung der globalen Aufgaben wissen. Wir wollen sozialen Fortschritt. Wir wollen, dass fairer und ethischer Handel die Normalität wird. Wir wollen Frieden statt Konfrontation, weltweit. Diese Art von Politik muss das Kriterium für die Gesetzgebung in der EU und ein entscheidendes Maß für die Zusammensetzung der neuen EU-Kommission werden.